Leseprobe 4

"Heiratet ihr eigentlich?" fiel es Detze gerade ein, "Ich meine ein paar hundert Jahre mit derselben verheiratet sein fände ich schon irgendwie eigentümlich..."

"Nein, bei uns heiratet keiner. Warum heiraten denn bei euch die Menschen?" fragte Mary zurück.

"Na, aus steuerlichen Gründen, weil es gesellschaftlich erwartet wird, vor allem wenn Nachwuchs kommt, aus wirtschaftlichen Gründen..," grübelte Detze, und Puszta warf ein: "Eigentlich eine gute Frage! Liebe ist kein Grund zum heiraten, Liebe kann man sich vertraglich eh nicht absichern. Wenn es aber Liebe nicht ist, was dann...?"

"Seht ihr," sagte Mary, "ihr kommt schon von alleine drauf! Man kann durchaus jemanden lieben oder mögen, aber dafür braucht man keine Verwaltung und keinen Vertrag. Wenn wirtschaftliche Gründe obsolet werden, dann wird auf einmal das ganze Heiraten obsolet. Bei uns ist niemand materiell abhängig von anderen, d.h. wenn es Gefühle gibt, dann sind die echt und ohne Hintergedanken. Keiner kann sich durch Beziehungen materielle Vorteile verschaffen, und keinem entstehen bei einer Trennung Nachteile. Keiner hindert zwei Menschen daran, sich zu mögen, so viel und so lange sie wollen - und zwar mit der Gewissheit, dass es im Falle einer Trennung keinerlei Behinderung gibt, nicht für sich selbst und nicht für den Partner. Das ist viel natürlicher und es bedarf keiner Formalitäten."

"Bleibt vielleicht die Religion als Grund!" warf Detze ein, dem man nun aber wahrhaftig nicht nachsagen konnte, dass er religiös war. "Gibt es bei euch noch Religionen?"

"Nur theorethisch!" erwiderte Mary, "Jeder darf glauben und denken was er will, und im Prinzip gilt das ja auch bei euch - aber unsere Erkenntnisse sind so weit fortgeschritten, dass de facto so gut wie keiner mehr an irgendeine Religion glaubt. Früher hatten wir eine ähnliche Vielfalt an Religionen wie ihr - ist auch zum Teil durchaus sinnvoll, wenn im Laufe der Entwicklung mangelndes Wissen zumindest vorläufig durch Glauben ersetzt wird. Problematisch wird es allerdings, wenn die Dogmen des Glaubens durch Wissen nicht nur in Frage gestellt, sondern ganz klar widerlegt werden. Da hat es auch in eurer Geschichte schon reichlich Beispiele gegeben, dass die Religion ihre Machtposition ausgenutzt und aus Selbsterhaltungstrieb Wissen schlichtweg verboten hat - siehe Galilei und Kopernikus. Eigene Fehleinschätzungen zugeben ist bisher noch keiner Kirche leichtgefallen."

"Ich kenne die beiden zwar, weiß aber momentan nicht, worauf du hinaus willst." unterbrach Detze.

"Na ja, im Prinzip hat ja schon 1700 Jahre vorher Aristarchos von Samos behauptet, die Erde drehe sich um die Sonne, aber es gab wohl nicht allzuviel Publicty dafür, deswegen hat sich auch keiner darüber aufgeregt. Und es gab vielleicht auch noch andere Menschen, die es schon vorher erkannten, aber nicht den Mut hatten, den Mund auf zu machen. Jedenfalls haben Kopernikus und Galilei als erste Menschen publiziert, dass sich z.B. die Erde um die Sonne und um sich selbst dreht, und das hat der Kirche wenig gefallen. Galileo Galilei musste 1633 nach Verhören vor einem Inquisitionsgericht seinem 'Irrtum' abschwören, die Erde kreise um die Sonne. Das viel früher erschienene Hauptwerk von Nikolaus Kopernikus 'Sechs Bücher über die Umläufe der Himmelskörper' wurde 73 Jahre nach seinem Tod von der Kirche verboten. "

"Und was wollen uns diese Worte sagen..."ging Detze ein Licht auf, "Der große Durchblick nützt gar nichts wenn die Dummheit an der Macht ist."

"Auf einen kurzen Nenner gebracht kann man es so ausdrücken!" stimmte Mary zu, "Deshalb kann ich euch noch so viele Weisheiten und Erkenntnisse erzählen, sie können bei euch kaum mehr als Denkanstösse auslösen und auch absolut nichts über Nacht verändern. Glauben wird euch eh keiner, dass es mich überhaupt gibt. Na ja, jedenfalls haben eure Kirchen und Religionen vorläufig alle noch eine Existenzberechtigung. Genau genommen hat jede Religion genau so lange eine Existenzberechtigung, wie irgendjemand an sie glaubt, und danach wird sie von selbst überflüssig. Leider wird es wohl auch noch für einige Zeit genauso wie in eurer Vergangenheit hier und da zu religionsbedingten Auseinandersetzungen, sprich Kriegen kommen. Finde ich natürlich schade, dass sich eure Religionen für so was missbrauchen lassen, verdient haben sie es sicher nicht."

"Das war für mich überhaupt der erste Auslöser im Leben, Religionen allgemein in Frage zu stellen!" warf Detze ein "Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein - das sagt eigentlich alles aus. Und bis jetzt habe ich eigentlich nur Religionen kennengelernt, die Frieden predigen, aber nicht praktizieren, oder die keine Toleranz und Rücksicht gegenüber Andersdenkenden zeigen."

"Ausnahmen gibt es aber durchaus, mit dem prominentesten Beispiel des Buddhismus. Eine relativ vernünftige Religion, die auch an keinen allmächtigen Gott glaubt, sondern eher direkt an die ganz persönliche Verantwortung und Vernunft eines jeden Einzelnen appelliert. Na ja, und tolerant gegenüber Andersdenkenden sind Buddhisten auch. Aber das soll euch jetzt sicher nicht zu Buddhisten machen - vernünftig sein könnt ihr nämlich auch so..." lachte Mary.

"Einverstanden!", sagte Puszta jetzt, "Lasst uns also vernünftig sein. Na ja, so wie immer halt! Wenn alle Menschen nur etwas mehr Toleranz bei gleichzeitig etwas mehr Rücksichtnahme zeigen würden, dann gäbe es weniger Kriege, aber auch weniger Arbeit für unsere Gerichte. Wegen was für einen Scheiß sich zum Beispiel in Deutschland Leute streiten und verklagen, das schreit zum Himmel. Da werden wegen absoluten Schwachsinnigkeiten hochqualifizierte und hochbezahlte Richter und Anwälte in Trab gehalten, nur weil irgendeinem Idioten die Nase seines Nachbarn nicht gefällt. Habt ihr sowas auch?"